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Willkommen in der Weltenschmiede

Freitag, 21. Juni 2013

Über das Schmieden von Welten III - Charaktermotivation

In meiner Liste der Fantasyklischees habe ich meine Meinung ja bereits anklingen lassen, heute möchte ich mich näher damit auseinandersetzen, welche Rolle die Motivation einzelner Charaktere für eine Fantasygeschichte spielen sollte.

An der Magierschule wird Timmy stets von einer Gruppe größerer Jungs gemobbt, dabei sagt sein Lieblingslehrer ihm, er sei der Auserwählte.
Warum lässt man ihn dann nicht in Ruhe?

Nach einer langen und entbehrungsreichen Reise durch Sümpfe und Urwälder erreicht die kleine Heldengruppe endlich das Ziel ihrer Reise. Timmy, Champion der Götter des Lichts, ist dankbar für die Treue seiner Gefährten, die ihm murrend, aber stets ergeben bis hierher gefolgt sind.
Aber warum nehmen sie all die Mühen überhaupt auf sich, wo der Großteil der Bevölkerung gar nicht an die dunkle Bedrohung aus dem Osten (und es ist immer der Osten!) glaubt?

Auf seinem Thron aus den Knochen seiner erschlagenen Feinde sitzt der Dunkle Lord. Rot glühen seine Augen, während er die Karte vor sich studiert. Bald, bald wird das ganze Land unter den eisernen Stiefeln seiner Schergen erzittern und wenn Prinz Timmy erst tot ist, dann wird er endlich tun können, wonach sich sein Herz so lang schon verzehrt: Er wird das Ende der Welt herbeiführen!
Warum? Das fragt sich niemand, auch nicht seine Schergen, denn täten sie es, hätten sie vermutlich längst schon ihre Loyalität zu ihm überdacht.

In dieser Hinsicht ist Fantasy beinahe ein wenig benachteiligt. Andere Genres können über viele Seiten mit wenig (externer) Handlung vorankommen und stattdessen Spannung aus der Interaktion von einer Gruppe junger Studenten, Ex-Mitgliedern der RAF oder einem Ehepaar am Rande der Scheidung ziehen. Fantasy hingegen wird vorangetrieben von und ist fokussiert auf die Handlung, die im Zentrum der Geschichte steht und der sich die meisten anderen Elemente unterzuordnen haben.
Das ist auch gut so. Ein Buch sollte in erster Linie unterhalten und erst bei genauerer Betrachtung tiefere Ebenen für diejenigen offenbaren, die danach Ausschau halten, die Botschaft, so es sie denn gibt, sollte niemals der einzige Grund für die Existenz dieses oder jenes Fantasybuches sein. Ebenso wenig sollten übermäßige Beschreibungen, grundloses Herummeandern in der Welt oder ausgedehnte Geschichtsstunden ohne Handlungsrelevanz gegenüber dem Plot den Vorrang haben, so oft dies auch passiert. Der Plot - kurz gesagt - ist König.
Mit einer Ausnahme: Kein Charakter sollte etwas tun oder nicht tun - gerade wenn es seiner Natur widerspricht - nur weil der Autor den Plot in eine bestimmte Richtung führen will.

Wenn ich schreibe, versuche ich mich daran zu halten, so gut es geht. Für mich ergeben sich die interessanteren Entwicklungen stets aus dem Zusammenspiel von Charakteren, die ihre eigenen Ziele verfolgen, Meinungen haben, Absichten hegen. Deshalb habe ich auch stets Probleme damit, mithilfe einer Outline zu schreiben. Im Schreibprozess kann es - und wird es in der Regel auch - passieren, dass von einer anfänglichen Idee, wohin die Handlung geht oder wie sie verläuft, am Ende nur noch die gröbsten Elemente übrig sind. Dafür entstehen ganze Handlungsstränge aus der gegensätzlichen Motivation verschiedener Charaktere, die miteinander in Konflikt geraten.
Das hat auch für den Autoren den Vorteil, dass die Handlung für ihn ebenfalls spannend bleibt und kann so zur Motivation enorm beitragen.
Bitte: das soll nicht heißen, dass es schlecht ist, mit einer Outline zu schreiben. Für mich funktioniert es (bei langen Geschichten) allerdings nie wirklich.

Doch weg von Schreibtipps und zurück zur Frage nach der Motivation von Charakteren.
Die wird leider oftmals eher stiefmütterlich behandelt. Warum hassen die anderen Kinder Timmy? Weil er der Auserwählte ist - was sie gar nicht wissen können - und mobbende Kinder eben zu Geschichten in einer Schulumgebung dazugehören. Das, oder die Obermobber sind einfach von Natur aus schlecht.
Ausnahmsweise greift hier mal nicht die Tolkien-Argumentation. Dafür wird auf Harry Potter verwiesen, wo die Ausgangslage ähnlich war und vergessen, dass Draco und Co. schlüssige Motivationen hatten, Harry nicht zu mögen: Sie stammen aus Haushalten, die nicht nur eine Verbindung zu Lord Voldemort hatten, sondern auch reinblütig waren und Muggelmischlinge verachteten. Als Harry sich dann auf die Seite von Ron und Hermine schlägt, überträgt sich diese Abneigung auch auf ihn.

Und Timmys fröhliche Band ethnisch diversifizierter Begleiter? Wenn niemand an die Bedrohung glaubt, warum sollten sich dann Zwerge und Elfen zusammentun, die sich auch an guten Tagen nicht riechen können?
Tolkiens Gefährten des Rings folgten Frodo nicht alleine, weil es die Handlung verlangte, sondern weil keine der Parteien - Zwerge, Elfen und die Menschen Gondors - es riskieren wollte, kein Auge auf eine Massenvernichtungswaffe wie den Einen Ring zu haben.

Zum Dunklen Lord will ich an dieser Stelle gar nicht viel sagen, außer dies: "Er ist wahnsinnig/von Natur aus Böse" ist keine Motivation, ebenso wenig, wie der Wunsch, die Welt zu zerstören oder zu erobern als kreatives Ziel für finstere Herrscher zählt.

Im vorangegangenen Abschnitt wird deutlich, dass die Frage nach der Motivation einzelner Charaktere eng mit den Klischees verwoben ist, die dem Genre Fantasy als ganzes immer vorgeworfen werden.
Oftmals täte es einer Geschichte gut, nicht die große Queste oder jene fixe Idee vom finalen Kampf zwischen Gut und Böse als Ausgangspunkt zu nehmen, sondern eine Auswahl von Charakteren in verschiedenen Positionen und Lebenslagen aufeinandertreffen zu lassen und sie, gemäß der Dinge, die für sie wichtig sind, handeln zu lassen.
Die Vorteile sind vielseitig. Anstatt in die Outline für Kapitel 47 mit Rotstift "Konflikt zwischen Timmy und dem heimlichen Verräter" zu schreiben, ergeben sich solche Handlungselemente aus dem Zusammenspiel der Charaktere. Anstatt jemandem zum Verräter zu machen, weil er als falscher Fuffziger aus Muttis Schoß geflutscht ist, präsentiert man sein (sozialen) Umstände (er hat Familie und der Dunkle Lord zahlt besser; sein entfremdeter Sohn befindet sich in der Stadt, die Timmys Goldenen Reiter dem Erdboden gleichmachen wollen, weil sie sich nicht dem Guten Zweck anschließen will; ...) als Auslöser für seinen Verrat.
Ich kann nur noch einmal auf Brandin verweisen, den Antagonisten aus Kays Tigana, der der namensgebenden Provinz einen fürchterlichen Fluch auferlegt, nicht, weil das zum täglich Brot dunkler Magier gehört, sondern aus Rache für und Trauer um den Tod seines Sohnes. Seine Motivationen sind stets schlüssig und - was fast noch wichtiger ist - sie sind nicht in Stein gemeißelt. Im Laufe der Handlung verändern sie sich und führen zu tragischeren Ereignissen als fünf Dunkle Lords, die hundert Städte voller Waisenkinder niederbrennen.

Auch die Frage nach Charaktermotivation und das Drängen, sie zur Achse der Ereignisse einer Geschichte zu machen, wurzelt in meiner dringlichen Bitte, Fantasy von Weltenretterprosa und Heldenreise-Epen aus tolkienesker Gussform weg und zu persönlicheren, menschlicheren Geschichten hin zu führen.
Ihr wollt Kriege? Ihr wollt dunkle Magie? Bitte. Aber macht sie nicht zum Selbstzweck. Spannung erwächst, wenn komplexe Charaktere auf komplexe Weise in Interaktion treten, nicht wenn der Dämonenfürst der Saison ins immergrüne Feenland einfällt. Geschichten auf Basis von Charaktermotivation erschweren Schwarz-Weiß-Denken und führen zu den (tragischen) Verflechtungen, die Das Lied von Eis und Feuer und neuzig Prozent dessen, was Guy Gavriel Kay schreibt, so interessant machen.

Freitag, 14. Juni 2013

Buchvorstellung II - Joe Abercrombie: Red Country

copyright - Harpercollins
Shy South traut ihren Augen nicht, als sie zu ihrer Farm zurückkehrt: am Baum neben der Scheune baumelt eine Leiche, jemand hat Feuer gelegt und Shys junge Geschwister Pit und Ro sind fort.
Zusammen mit Lamb, dem großen, stillen Feigling aus dem Norden, macht sie sich auf die Suche nach den Entführern um den einzigen Hort von Frieden wieder herzustellen, den sie in ihrem Leben je gekannt hat. Unterwegs schließt sie sich einer Gruppe von Auswanderern an, die in der Far Country unter Goldsuchern ihr Glück suchen. Als schließlich die Ghosts - die Ureinwohner der Far Country - und ein heruntergekommenes Söldnerheer ihren Weg kreuzen, ist nichts mehr wie es schien und die Gefahr, in die Shy sich wissentlich begeben hat, wächst nur noch weiter, während sie und Lamb ein wildes Land durchqueren, in denen nur die Neuankömmlinge aus der Zivilisation wilder sind als die Natur.

Red Country (dt: Blutklingen) ist mittlerweile das sechste Buch des britischen Autoren Joe Abercrombie. Es spielt in der gleichen Welt wie seine Erstlingstrilogie The First Law und versetzt den Leser einmal mehr in eine brutale Welt, die nicht nur voller schlechter Menschen ist, sondern auch die wenigen anständigen Menschen schlechter macht. Damit ist Abercrombie sicherlich keine Feel-Good-Fantasy, auch wenn der Humor nicht zu kurz kommt. Die Charaktere besitzen oft fundamentale Fehler, die Welt wurzelt in Dreck, Elend und schmerzhaftem Realismus und die Gewalt bricht oftmals in erschreckend plötzlichen Schüben über die Handlung herein. In Red Country ist das nicht anders und hier mitunter besonders verstörend, weil sie nicht selten unnötig wäre, wenn die Protagonisten nur ein wenig anders veranlagt wären. Aber viele - und es ist ein wiederkehrendes Thema in Abercrombies Werken - sind so festgefahren in ihren Wegen, dass es ihnen schwer bis unmöglich fällt, anders zu handeln, als in ihren gewohnten Mustern. Das kann von bitterem Humor im Falle des beinahe rückgratlosen Anwalts Temple bis hin zu manchmal schwer zu ertragender Tragik führen, wie etwa in der Person Nicomo Coscas, eines alten bekannten aus Abercrombies erster Trilogie.


Überhaupt ist Nicomo Cosca, seines Zeichens trinkender, lügender Anführer eines skrupellosen Söldnerheers, der sich diesmal in den Dienst der ebenso gewissenlosen Inquisition begeben hat, so etwas wie der heimliche Star von Red Country. Er ist die Personifizierung eines der zentralen Themen des Buchs, nämlich der Frage, ob ein Mann sich ändern kann, wenn er bereits so weit von geistiger Gesundheit entfernt ist und so viele schreckliche Dinge getan hat, dass sie zu dem geworden sind, worüber er sich definiert. Cosca ist sicherlich nicht der sympathischste Charakter des Buches, aber sicherlich der tragischste. Er bildet den starken Kontrast zu Shy, die auf dem besten Weg ist, ähnlich verhängnisvolle Pfade einzuschlagen, wie jene, auf denen Cosca schon seit Jahrzehnten wandelt. Obwohl die beiden Charaktere sich vergleichsweise spät begegnen, ist der Gegensatz zwischen ihnen eine der zentralen Achsen des Buches. Vielleicht, scheint Abercrombie zu sagen, kann ein Mensch sich ändern, aber es ist mit Sicherheit schwerer, als sich einfach treiben zu lassen, wie dunkel und blutrot die Strömung auch ist. Die Helden sind nicht die Soldaten und Krieger, sondern diejenigen, die Gewalt und Macht sehen und sich von ihr abwenden.

The Far Country - copyriight Joe Abercrombie
Interessant ist auch der Goldgräberplot, der geradewegs aus einer Wild-West-Story entliehen ist. Er spielt in das zweite große Thema des Buches, die Frage nach der Rolle und Wirkung von Fortschritt und ob Fortschritt immer positiv zu sehen ist. In Red Country ist der Preis für Fortschritt oft groß, die Zerstörung des Alten mindestens so tragisch wie Coscas Werdegang und die Zivilisation, die in die Far Country gebracht wird, sieht aus der Nähe betrachtet selten nach etwas anderem aus als einer anderen Form von Wildheit. Oder ist das Alte überhaupt gar nicht das Blut und den Schweiß wert, den es kostet, es zu bewahren?

Abercrombie ist nicht ohne Fehler, das zeigt auch Red Country an mehreren Stellen. Seine komplexen Charaktere lassen es nur offensichtlicher Erscheinen, dass seine Welt nicht immer kohärent ist und selten so etwas wie geschichtliche Tiefe besitzt, wie sie etwa George R.R. Martins "Das Lied von Eis und Feuer" auszeichnet. Gerade das ist aber zu verschmerzen, wenn man seine Bücher als eine Form von Satire betrachtet, die - ähnlich wie bei Terry Pratchett - nicht das Fantasysetting an sich zum Ziel hat, sondern es nutzt um sehr menschliche Themen anzugehen. Deshalb ist es wenig verwunderlich, wenn einige Ideen aus The First Law auch in Red Country wieder auftauchen: Macht und Verantwortung, Vergangenheit und Entscheidungen, Gewalt und Feigheit und die Frage, ob Ordnung ohne Gewalt existieren kann, oder Freiheit ohne Chaos.
Problematischer ist da schon, dass Red Country stellenweise weniger fokussiert wirkt. Ein Nebenplot um die Ureinwohner der Far Country verläuft im Sande, ein anderer wird auf den letzten Seiten zwar auf sympathische, aber etwas inkonsequente Weise aufgelöst.
Mich persönlich stört auch Abercrombies Monomythos vom Maker, einer mystischen Gestalt, die vor Jahrtausenden großartige Technologien und Waffen geschaffen hat. Auch in "Red Country" machen seine Anhänger wieder ihre Aufwartung. Das ist zwar mit dem Plot geschickt verknüpft und auch recht zentral, wirkt aber über lange Strecken, als hätte Abercrombie es in erster Linie eingefügt, um einen Verbindung zu seinen früheren Büchern herzustellen.

Alles in Allem ist Red Country aber ein weiteres gutes Buch eines der Ausnahmeautoren der Fantasy. Abercrombie dekonstruiert zwar Genrekonventionen weniger stark als in The First Law, dafür sind seine Moralüberlegungen noch kritischer, seine Charaktere wieder sympathisch und echt, der Stil zwischen Gewalt und Humor immer noch großartig und einzigartig. Zwar werden gerade gegen Ende einige der zentralen Fragen nochmal via Zaunpfahl in Richtung des Lesers geschlagen - Kays Subtilität aus Sailing to Sarantium fehlt - aber das ist zu verzeihen bei einem Buch, dass über seine gesamte Länge fesseln und nicht selten zu überraschen vermag.
Red Country ist ein alleinstehender Band aus der Welt des First Law, wer allerdings frühere Bände kennt, wird sich schneller zurechtfinden können.
Fantasy ohne Dunkle Lords, magische Queste und strahlende Helden - sicherlich überrasche ich niemanden mehr, wenn ich dieses Buch wärmstens empfehle.

Auf deutsch ist seit Oktober 2012 im Original und seit April 2013 in der Übersetzung erhältlich. Im Englischen ist nicht nur der Titel schöner ... 


Titel: Red Country
Autor: Joe Abercrombie
Sprache: Englisch
ISBN-10: 0575095830
ISBN-13: 978-0575095830

oder

Titel: Blutklingen
Autor: Joe Abercrombie
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3453314832
ISBN-13: 978-3453314832




Freitag, 7. Juni 2013

Über das Schreiben II - Romane und Kurzgeschichten

Es lässt sich nicht vermeiden – sei es im Literaturstudium oder in der Freizeit – mit Kurzgeschichten und Romanen in Kontakt zu kommen, wenngleich letztere wohl häufiger von Fantasylesern konsumiert werden.
Während die meisten Leser sich der grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden Gattungen zumindest noch aus der Schule grob bewusst sind, wird selten darüber nachgedacht, welch verschiedene Ansprüche sie an ihre Verfasser richten. Ein Autor tut gut daran, sich für die Kurzgeschichte und für den Roman andere Herangehensweisen zuzulegen.
Damit sind nicht einmal so sehr die üblichen Termini wie in medias res gemeint. Für den Autoren unterscheiden sich die Gattungen in ihrem Umgang mit Charakteren, dem Ablauf und Tempo der Handlungen und dem Umfang der Ereignisse.

Allgemein gesprochen - und wenig überraschend - ist die Anzahl der Charaktere in einer Kurzgeschichte um einiges geringer als in einem Roman oder einer Novelle. Das verlangt vom Autoren, dass er direkt von Anfang an gut ausgestaltete Charaktere präsentieren muss, denn mit Hintergrundgeschichten kann er sich hier nicht aufhalten. Darin miteingeschlossen ist die Überlegung, wieviele Informationen dem Leser vermittelt werden müssen, während gleichzeitig nicht zu viel zu vereinfacht dargestellt werden sollte oder Handlung zu Gunsten von Charakterisierung gekürzt werden darf.
In einem Roman oder einer Novelle rührt andererseits ein großer Anteil der Faszination von der Bandbreite her, mit dem sich der Autor der Psyche und Lebensgeschichte eines oder mehrerer Charaktere widmen kann. Während eine Kurzgeschichte damit davonkommen kann, den Fokus auf einen einzigen (oder eine handvoll) Charaktere zu legen, präsentieren uns Romane eine weitaus größere Riege an Akteuren und erlauben es dem Autoren so, beispielsweise verschiedene Perspektiven auf dieselben Ereignisse darzustellen oder Charakteren Tiefe zu verleihen, indem ihre Hintergrundgeschichte dargelegt wird. Allerdings besteht hier Grund zur Warnung: schlampt der Autor in seinem Handwerk und geht nicht vorsichtig vor, erscheinen die verschiedenen Charaktere all zu oft nur wie Klone mit falschen Bärten und unterschiedlichen Perücken.

 Was Ablauf und Tempo der eigentlichen Handlung anbelangt, erlegt die Kurzgeschichte dem Verlangen des Autoren, in seiner Kreation umherzustreifen und all die hübschen Dinge aufzuzeigen, strenge Restriktionen auf. Kurzgeschichten benötigen eine sehr klare Struktur; idealerweise eine, die im Vorfeld des Schreibens wenigstens grob ausgearbeitet wurde. Eine Outline oder Skizze bietet sich hier an.
Der Plot an sich muss fokussiert sein und auch so vermittelt werden, ohne überflüssigen Schnickschnack - die richtige Balance zu finden braucht Übung und viel Erfahrung und selbst dann ist kein Erfolg garantiert. Das bedeutet allerdings keinesfalls, dass Kurzgeschichten simpel sein müssen - Alice Munros "Meneseteung" würde wohl niemand derart beschreiben - aber die dargestellten Ereignisse sind in der Regel gering in der Zahl und geschehen in einer kurzen Zeitspanne in der der Leser Einblick in Welt, Charaktere und Lebensumstände erhält.
Romane gestatten hingegen geringeres Tempo und weniger fokussiertes Schreiben. Während eine Outline für den einen oder anderen nützlich sein mag, kann die Handlung eines Romans sich durchaus wie Wildwuchs entwickeln und schnell aus jedem zuvor festgelegten Konzept ausbrechen. Nicht selten bricht ein Autor mit einer festen Vorstellung vom Ende seiner Geschichte in eine neue Phantasiewelt auf, nur um zu erleben, wie die Interaktion zwischen den Charakteren und ihre Beziehungen eine ganz andere Fliehkraft entwickeln. Zwar folgen auch Romane oftmals einer Art "Standardvorlage" von ansteigender Handlung, Höhepunkt und Denoument, können und dürfen sie vom Weg abweichen, Nebengeschichten erforschen und schnellere mit langsameren Abschnitten zu einem großen Ganzen verweben.

Eine der ersten Sachen - und vermutlich einer der Faktoren, der tatsächlich den meisten im Gedächtnis bleibt - ist, dass Kurzgeschichten in der Regel einen begrenzten Handlungszeitraum und eine begrenzte Menge an Handlungen betrachten. Das bedeutete, dass die Handlung in relativ kurzer Zeit stattfindet und sich bloß auf solche Ereignisse konzentriert, die für die Geschichte absolut notwendig sind. Für den Autoren liegt der Schlüssel zu einer guten, gut lesbaren Kurzgeschichte darin, unnötige Elemente auszumachen und gnadenlos zu kürzen.
Im Roman sind Nebenhandlungen nicht nur erlaubt, sondern auch wichtig, Beschreibungen dürfen weniger zurückhaltend verwendet werden. Anstatt dem Leser nur zu zeigen, was geschieht, darf der Roman sich daran versuchen, die Hintergründe und Auslöser für Ereignisse zu untersuchen - warum geschieht alles genau so und nicht anders? Charaktere dürfen auch außerhalb der Notwendigkeiten des Plots und der primären Charakterisierung agieren. Andererseits ist es auch dieser Umstand, der es dem Autoren manchmal erschwert, sein Werk nicht unnötig oder künstlich aufzublasen.

Aus der Perspektive des Autoren ist der Unterschied zwichen Roman und Kurzgeschichte dehalb mehr als nur einer der Länge. Auch die technischen Anforderungen sind grundverschieen. Beide Formen besitzen ihre eigenen Herausforderungen und Begrenzungen, aber auch ihre ganz eigenen Erfolgserlebnisse und Belohnungen. Während eine Kurzgeschichte so künstlerisch wertvoll und anspruchsvoll ist wie das Malen eines Portraits, gleicht ein Roman nicht selten eher einem ausgedehnten Wandgemälde. Keine Form ist der anderen überlegen - sie fordern lediglich auf unterschiedliche Weise Technik und Talent - und beide sind auf ihre jeweils eigenen Weise unterhaltsam.
Für Leser und Autoren.